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Der Missbrauch von § 166 AO

Nach Ansicht des FG Rheinland-Pfalz (Vgl. EFG 2020, 423.) ist es dem Gesellschafter verwehrt, Einwendungen gegen die Veranlagung von vGA auf seiner Ebene geltend zu machen, wenn die vGA auf Ebene der Gesellschaft bestandskräftig veranlagt ist. In seiner Begründung verweist das FG Rheinland-Pfalz auf die Entscheidung des BFH vom 27.9.2017 (Vgl. BFH vom 27.9.2017 XI R 9/16, BStBl. II 2018, 515.).

Danach muss der für die Steuern der Gesellschaft haftende Geschäftsführer die Unanfechtbarkeit der bei der Gesellschaft festgesetzten Steuer nach § 166 AO gegen sich gelten lassen, wenn er in der Lage gewesen ist, die der Haftung zugrunde liegenden Körperschaftsteuerbescheide anzufechten. Da der Gesellschafter im Fall des FG Rheinland-Pfalz auch Geschäftsführer der Gesellschaft gem. § 34 AO war, hätte er die Steuerbescheide der Gesellschaft anfechten und der Tabellenfeststellung der KSt-Schuld widersprechen können. Letzteres hat er nicht getan. Daraus schließt das FG Rheinland-Pfalz, dass er die auf der Ebene der Gesellschaft unanfechtbar veranlagte vGA bezüglich der Veranlagung einer vGA auf seiner ESt-Ebene gem. § 166 AO gegen sich gelten lassen muss.

Diese Auffassung des FG Rheinland-Pfalz ist unzutreffend. Da die Veranlagung von vGA eigenständige Steuersubjekte (Gesellschaft und Gesellschafter) betrifft und auf unterschiedlichen Rechtsgrundlagen beruht (§ 8 Abs. 2 S. 3 KStG und § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG), muss für die in der vorliegenden Entscheidung durch das FG Rheinland-Pfalz erfolgte Annahme einer Bindungswirkung der Veranlagung einer vGA auf der Ebene der Gesellschaft für die Veranlagung einer vGA auf der Ebene des Gesellschafters eine gesonderte Rechtsgrundlage gegeben sein, was im Ergebnis nicht der Fall ist:

•    Grundlagen-Folgebescheid-Verhältnis

Der Körperschaftsteuer- und der Einkommensteuerbescheid stehen nicht im Verhältnis eines Grundlagen- und Folgebescheids gemäß § 171 Abs. 10, § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO. Dazu bedarf es der gesetzlichen Anordnung, die nicht gegeben ist (Vgl. St. Rspr., vgl. nur BFH vom 12.6.2018 VIII R 38/14, BFH/NV 2018, 1141, mwN.)

•    Materiell-Rechtliche Bindung

Ausnahmsweise nimmt die Rechtsprechung ohne gesetzliche Anordnung eine materiell-rechtliche Bindungswirkung von Feststellungen auf der Ebene der Gesellschaft für die Besteuerung des Gesellschafters an. Der BFH geht bei der Beurteilung der Rückzahlung von Einlagen von einer materiell-rechtlichen Bindung der Feststellung nach § 27 Abs. 2 KStG für die Qualifizierung einer Ausschüttung als Einlagenrückzahlung oder Dividende (§ 8 Abs. 1 Satz 1 KStG iVm. § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG) aus. Der Feststellungsbescheid der Körperschaft entfaltet nach der Rechtsprechung des BFH eine materielle Tatbestandswirkung im Hinblick auf die Besteuerung des Gesellschafters, obgleich das Gesetz dieses nicht anordnet (Vgl. nur BFH vom 19.5.2010 I R 51/09, BStBl. II 2014, 937; vom 28.1.2015 I R 70/13, DStR 2015, 1242; vom 11.2.2015 I R 3/14, BStBl. II 2015, 816.). Eine solche Bindungswirkung wird für die Beurteilung des Vorliegens einer vGA auf Ebene der Gesellschaft bzw. auf Ebene des Gesellschafters zu Recht nicht angenommen (Vgl. BFH, aaO.). Das folgt bereits aus der Unterschiedlichkeit der materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Annahme einer vGA auf Ebene der Gesellschaft und auf Ebene des Gesellschafters. Bezüglich der Einlagenrückzahlung gibt es diese Unterschiedlichkeit auf Ebene der Gesellschaft  bzw. auf Ebene des Gesellschafters nicht. Darüber hinaus stellt § 20 Abs. 1 Nr. 1 S. 3 EStG zwar keine materielle Bindungswirkung, aber die materielle Verknüpfung zu § 27 KStG ausdrücklich her (ME führt das - entgegen der Auffassung des BFH - nicht zur materiellen Bindungswirkung.). Aus den Korrespondenzregelungen in § 8b KStG, § 3 Nr. 40d Satz 2, § 32 d Abs. 2 Nr. 4 EStG, folgt nichts anderes. Diese beinhalten lediglich Verknüpfungen von Rechtsfolgen, nicht aber Verknüpfungen der materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Annahme einer vGA bei Gesellschaft bzw. Gesellschafter.

•    § 166 AO

Das FG Rheinland-Pfalz stützt seine Entscheidung auf § 166 AO. Das FG Rheinland-Pfalz stellt zutreffend fest, dass die (widerspruchsfreie) Feststellung der Körperschaftsteuerforderung zur Insolvenztabelle einem bestandskräftigen Steuerbescheid gleich steht und nach Auffassung des BFH in den Anwendungsbereich des § 166 AO fällt. Richtig ist auch, dass nach der Rechtsprechung des BFH das Widerspruchsrecht nach §§ 178, 184 InsO mit dem Einspruch und der Klage gegen den Steuerbescheid vergleichbar ist und somit die Möglichkeit eröffnet, die Rechtmäßigkeit der Steuerschuld gegenüber der insolventen Gesellschaft klären zu lassen. Wird also eine Steuerforderung gegenüber einer AG widerspruchslos zur Insolvenztabelle festgestellt, muss der Geschäftsführer oder der Gesellschafter diese Steuerforderung gegen sich gelten lassen, wenn er der Forderungsanmeldung hätte widersprechen können (nach § 34 AO als Vertreter oder kraft eigenen Rechts aus seiner Stellung als Insolvenzgläubiger) dies aber nicht getan hat (Vgl. BFH vom 17.9.2019 VII R 5/18, vgl. dazu Binnewies/Schüller, AG 2019, 74.). 

Das FG Rheinland-Pfalz verkennt jedoch, dass § 166 AO nur im Verhältnis zwischen Steuerschuld der Gesellschaft und Haftung des Geschäftsführes für diese Steuerschuld der Gesellschaft nach §§ 69, 191 AO Anwendung findet. Entgegen der Auffassung des FG Rheinland-Pfalz deckt weder der Wortlaut noch - und erst recht nicht - der Zweck von § 166 AO eine Bindungswirkung für unterschiedliche Ertragsteuern (ESt, KSt) unterschiedlicher Steuersubjekte (Gesellschaft, Gesellschafter). Der Wortlaut von § 166 AO, auf den sich das FG Rheinland-Pfalz ausdrücklich beruft, spricht von der „unanfechtbar festgesetzten Steuer“ von der eine Bindungswirkung für den Dritten ausgeht, der gegen diese Festsetzung hätte vorgehen können. Entgegen der Auffassung des FG Rheinland-Pfalz beinhaltet die Steuerfestsetzung auf Ebene der Gesellschaft keine „unanfechtbare Festsetzung“ von vGA als solche. Die Feststellung der vGA ist allenfalls Teil der nicht von der Bestandskraft der Steuerfestsetzung erfassten Besteuerungsgrundlagen der Gesellschaft. Die in einem Steuerbescheid angesetzten - nicht festgestellten - Besteuerungsgrundlagen bilden einen unselbstständigen Teil des Körperschaftsteuerbescheids (§ 157 Abs. 2 AO) und erzeugen keine Bindungswirkung für andere Steuerbescheide. Die „unanfechtbare Festsetzung der Steuer“, die der Gesellschafter/Geschäfts¬führer gegen sich gelten lassen muss, ist nach dem Wortlaut des Gesetzes zweifellos die Körperschaftsteuer der Gesellschaft.

Darum geht es im vorliegenden Fall aber gar nicht. Die Berufung des FG Rheinland-Pfalz auf den Wortlaut von AO § 166 ist daher unzutreffend. Das FG Rheinland-Pfalz verkennt auch die Rechtsfolge von § 166 AO. Die von § 166 AO erfassten Personen verlieren bei Untätigkeit gegen die Steuerfestsetzung nur solche Einwände, die sie im Rechtsbehelfsverfahren gegen diese Steuerfestsetzung, im vorliegenden Fall gegen den Körperschaftsteuerbescheid der Gesellschaft hätten geltend machen können. Alle anderen Einwände, insbesondere solche, die unabhängig voneinander gerügt und in den jeweiligen Rechtsbehelfsverfahren gesondert überprüft werden können, zB Einwände, die die konkrete Inanspruchnahme nach §§ 69, 1919 AO oder die Zuständigkeit des Finanzamts betreffen, bleiben erhalten (Vgl. nur HEUERMANN in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 166 AO Rz. 11 (Aug. 2016). Das bedeutet, dass der Anfechtungs- und Widerspruchsberechtigte, der untätig bleibt, seine Einwände gegen die bei der Gesellschaft veranlagte Körperschaftsteuer im Rahmen seines Haftungsverfahrens für genau diese Körperschaftsteuer verliert.

Dies hat überhaupt nichts mit einer Bindungswirkung der bestandskräftig veranlagten vGA auf der Ebene der Gesellschaft für die Einkommensteuerveranlagung der vGA beim Gesellschafter zu tun. § 166 AO schließt lediglich aus, dass der Gesellschafter keine Einwendung gegen die vGA bei der Gesellschaft erheben kann, wenn er für die Körperschaftsteuer der Gesellschaft in Haftung genommen wird. Unabhängig davon ist er frei, bei seiner Einkommensteuerveranlagung um das Vorliegen einer vGA zu streiten. Dieses Recht ist von § 166 AO in keiner Weise betroffen.

Prof. Dr. Burkhard Binnewies
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht
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