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„Surprise, Surprise“: Neues vom BFH zur Überraschungsentscheidung

„Stets findet Überraschung statt, da, 
wo man´s nicht erwartet hat.“ 
(Wilhelm Busch)

Nach der Rechtsprechung des BVerfG und des BFH sind Überraschungsentscheidungen wegen Verstoßes gegen den Art. 103 Abs. 1 GG und § 96 Abs. 2 FGO normierten Grundsatz des Anspruchs auf rechtliches Gehör unzulässig. Doch wann ist eine Entscheidung des FG als Überraschungsentscheidung zu qualifizieren? 

Der BFH hat mit dem kürzlich veröffentlichten Beschluss vom 10.1.2024 IX B 9/23 einmal mehr zu der Frage der Qualifizierung einer finanzgerichtlichen Entscheidung als Überraschungsentscheidung entschieden. Er hat das vorangegangene FG-Urteil wegen Vorliegens einer Überraschungsentscheidung aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung zurückverwiesen. 

 

I. BFH-Beschluss vom 10.1.2024 IX B 9/23  

In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt war zwischen den Beteiligten bis zur Entscheidung des FG streitig, ob der Klägerin Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung zuzurechnen sind. Erstmals im Urteil hatte das FG einen neuen Gesichtspunkt in das Verfahren eingeführt, wonach die Zurechnung aufgrund eines steuerlich anzuerkennenden Treuhandverhältnisses erfolge. Die Klägerin war zur vorhergehenden mündlichen Verhandlung vor dem FG nicht erschienen. 

Der BFH entschied, dass das FG eine Überraschungsentscheidung erlassen und damit den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt habe. Eine Überraschungsentscheidung liege, so der BFH, vor, wenn das FG sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Auffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlung nicht rechnen musste. Im Fall des Ausbleibens eines Beteiligten bei der mündlichen Verhandlung habe das FG nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu befinden, ob es gleichwohl in der Sache entscheidet oder den Termin vertagt.

Es sei im Rahmen seiner Ermessensentscheidung insbesondere dann zur Vertagung verpflichtet, wenn die Entscheidung aufgrund tatsächlicher oder rechtlicher Gesichtspunkte erfolgen könnte, zu denen den Beteiligten bisher kein rechtliches Gehör gewährt worden war.

Diese Voraussetzungen sah der BFH im Streitfall als gegeben an. Weder im Veranlagungs- und Einspruchsverfahren noch im Rahmen des Schriftsatzaustauschs während des finanzgerichtlichen Verfahrens sei der vom FG erstmals im finanzgerichtlichen Urteil vorgebrachte Gesichtspunkt des Treuhandverhältnisses angesprochen worden. Auch ein wegen des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs und der prozessualen Fürsorgepflicht gebotener Hinweis des FG dazu sei nicht erfolgt. Dem Sitzungsprotokoll sei kein Hinweis zu entnehmen, dass dieser Punkt in der mündlichen Verhandlung angesprochen worden ist.

Nach Auffassung des BFH hat die Klägerin ihr Rügerecht auch nicht durch Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge (in der Vorinstanz) verloren. In der bloßen Nichtteilnahme an der mündlichen Verhandlung liege kein Verzicht auf die Einhaltung der entsprechenden Verfahrensvorschriften. Denn auch wenn die Klägerin an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hätte, hätte sie erst aus dem Urteil erfahren, dass das FG seine Entscheidung auf einen bisher nicht erörterten Umstand gestützt hat. Stattdessen sei das FG zur Vertagung der mündlichen Verhandlung verpflichtet, da es die Entscheidung auf rechtliche Gesichtspunkte gestützt hat, zu denen der Klägerin zuvor kein rechtliches Gehör gewährt worden war.

 

II. Fazit und Schlussfolgerungen für die Praxis

Mit dieser – uE zutreffenden – Entscheidung führt der BFH seine bisherige Rechtsprechung zu Überraschungsentscheidungen fort. Es wird deutlich, dass es für die erfolgreiche Rüge einer Überraschungsentscheidung mehr als die bloße (gegenläufige) subjektive Erwartung des Klägers bzw. seines Prozessbevollmächtigten braucht. 

Der BFH ist Revisionsgericht. Dazu, ob und wann ein rechtlich oder tatsächlich entscheidungsrelevanter Gesichtspunkt erstmals vom FG erörtert oder benannt wurde, gibt dem Revisionsgericht zunächst allein das Sitzungsprotokoll und der Akteninhalt Antwort. Vor diesem Hintergrund ist dem Prozessbevollmächtigten im Finanzgerichtsverfahren anzuraten, die Protokollierung in der mündlichen Verhandlung sorgfältig zu beobachten und noch während der Protokollierung auf Richtigkeit und Vollständigkeit des Protokollinhalts hinzuwirken. Unerlässlich sind zudem die unverzügliche Durchsicht des Protokolls und ggf. ein Protokollberichtigungsantrag, wenn im Protokoll aus Sicht des Klägers der Hergang der Verhandlung im Hinblick auf den im Urteil überraschenden Umstand unrichtig oder lückenhaft geschildert wird. 

In diesem Kontext stellt sich die – bislang nicht abschließend geklärte – Frage, wie der Steuerpflichtige vor dem BFH Beweis erbringen kann, wann was bei dem FG in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht erörtert oder benannt worden ist. Sofern andere Beweismittel, zB Zeugen, nicht verfügbar sein sollten, dürfte sich uE die Versicherung an Eides statt anbieten.

Problematisch ist zudem das von der Rechtsprechung aufgestellte Erfordernis, dass der Prozessbevollmächtigte auch ungefragt alle streitrelevanten Tatsachen und Rechtsfragen erkennen muss und hierauf auch ohne gesonderten Vortrag einzugehen hat. Dies gilt insbesondere für die streitrelevanten Entscheidungen des BFH. Nach der Rechtsprechung kann zumindest für einen steuerlich vertretenen Kläger eine Überraschungsentscheidung dann vorliegen, wenn jene Entscheidung des BFH der Öffentlichkeit entweder gar nicht oder erst vor kurzer Zeit bekannt geworden ist. Vor diesem Hintergrund kommt der sorgfältigen Vorbereitung auf das FG-Verfahren eine besondere Bedeutung zu. Hierzu gehört die Akteneinsicht, insbesondere auch, um nicht Gefahr zu laufen, dass das FG seine Entscheidung auf ein in den Steuerakten befindliches, dem Prozessbevollmächtigten nicht bekanntes Dokument stützt.

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Dr. Markus Wollweber
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht
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Dr. Carina Freitag
Rechtsanwältin, Steuerberaterin
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