Zehnt – der Steuerblog

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Korrektur bestandskräftiger Bescheide nach Außenprüfung

Mögliche Ausweitung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO in Kassenprüfungsfällen

Ist eine Betriebsprüfung geplant, so ergehen die den Prüfungszeitraum betreffenden Bescheide im Regelfall unter dem sog. Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 Abs. 1 AO). Auf diese Weise wird die spätere Änderung der Steuerbescheide erleichtert, falls sich im Zuge der Betriebsprüfung Änderungen ergeben.

Stehen die zu ändernden Steuerbescheide nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung, so ist die Finanzverwaltung auf die Änderungsvorschriften der §§ 172 ff. AO angewiesen. Besonders praxisrelevant ist § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO, der eine Änderung im Falle nachträglich bekannt gewordener Tatsachen ermöglicht. Liegen die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht vor, kann sich der Steuerpflichtige erfolgreich gegen die Prüfungsfeststellungen wehren.

Ein aktuelles Urteil des BFH vom 6.5.2024 (III R 14/22) betrifft die Reichweite von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO in sog. Kassenprüfungsfällen, bei denen eine Hinzuschätzung im Raum steht.

 

I. Sachverhalt

Der Kläger war als Einzelhändler tätig und ermittelte seinen Gewinn im Wege der Einnahmenüberschussrechnung (§ 4 Abs. 3 EStG). Er nutzte eine elektronische Kasse, mit welcher er täglich Z-Bons ausdruckte. Auf den Z-Bons nahm er gelegentlich handschriftliche Korrekturen vor. Daneben führte er täglich Kassenberichte. In den Kassenberichten errechnete der Kläger den Kassenbestand, indem er von den Erlösen laut Bon die Kartenumsätze und Auszahlungen abzog und die Einzahlungen hinzurechnete. Das FA veranlagte ihn zunächst erklärungsgemäß und dann ohne Vorbehalt der Nachprüfung. 
Eine spätere Außenprüfung beanstandete die Aufzeichnungen des Klägers als formell mangelhaft und führte zu einer Hinzuschätzung. Das FA änderte daraufhin die bestandskräftigen Einkommensteuerbescheide der Streitjahre und stützte dies auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO.

Das Finanzgericht entschied, dass die formellen Mängel der Kassenführung bloße „Hilfstatsachen“ seien. Solche Hilfstatsachen seien erst als „Tatsachen“ anzusehen, wenn sie den sicheren Schluss auf eine Haupttatsache zulassen. Die formellen Mängel der Kassenführung ließen vorliegend keinen sicheren Schluss auf eine Einnahmeverkürzung zu (Niedersächsisches FG vom 21.8.2020 3 K 208/18, juris, Rz. 43).

 

II. Entscheidung des BFH

Der BFH entschied nun, dass auch die Art und Weise, in der der Steuerpflichtige seine Aufzeichnungen geführt hat, als eine Tatsache iSd. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO anzusehen ist (BFH III R 14/22, aaO). Dies gelte für Aufzeichnungen über den Wareneingang (§ 143 AO) ebenso wie für „sonstige Aufzeichnungen oder die übrige Belegsammlung eines Steuerpflichtigen, der seinen Gewinn durch Einnahmenüberschussrechnung ermittle“. Im Streitfall habe das Finanzamt erst durch die Außenprüfung – und damit nachträglich – von den Kassenaufzeichnungen des Klägers sowie den dazu vorhandenen Belegen (Z-Bons) und ihrem Inhalt Kenntnis erlangt.

 

III. Einordnung und Folgen für die Praxis

Durch die Entscheidung des BFH droht eine Ausweitung des Spielraums der Finanzverwaltung in Kassenprüfungsfällen. Nachträglich bekannt gewordene Aufzeichnungen werden nun nicht mehr als Hilfstatsachen, sondern als Tatsachen eingeordnet. Dadurch entfällt die Hürde, dass sie einen „sicheren Schluss“ auf die Einnahmeverkürzung zulassen müssen. 

Folgt man der Entscheidung des BFH, so ist nur noch danach zu fragen, ob das Finanzamt bereits beim ursprünglichen Erlass des Steuerbescheids zur Schätzung befugt war. UE ginge dies zu weit. Die Unterschiede zwischen einer Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO und § 164 Abs. 2 AO wurden praktisch eingeebnet. Eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sollte an höhere Anforderungen geknüpft werden. Denn während die materielle Bestandskraft im Falle einer Festsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung erst gar nicht eintritt, wird sie im Falle einer Änderung nach § 173 AO durchbrochen.

Auch in dogmatischer Hinsicht ist die Entscheidung kritikwürdig. „Tatsachen“ sind nach allgemeiner Definition alles, was Merkmal oder Teilstück des gesetzlichen Steuertatbestands sein kann (siehe nur BFH vom 21.8.2019 X R 16/17, BStBl. II 2020, 99 mwN). Die Einkommensteuerpflicht entsteht unabhängig davon, ob eine Schätzung vorliegt oder nicht. Die Schätzung ist lediglich ein auf Beweismaßreduzierung beruhendes Verfahren, in dem die Besteuerungsgrundlagen ermittelt werden (grundlegend BFH vom 12.6.1986 V R 75/78, BStBl. II 1986, 721). UE wäre es deshalb richtig, Schätzungsgrundlagen – wie die Vorinstanz – als Hilfstatsachen einzuordnen.
 

Dr. Peter Talaska
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht
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Dr. Markus Surmann
Rechtsanwalt
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