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Ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von Aussetzungszinsen
Anlässlich des Urteils des BVerfG vom 8.7.2021 (1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17, BVerfGE 158, 282) hatte der Gesetzgeber die Höhe der Erstattungs- und Nachzahlungszinsen für Zinsläufe ab dem 1.1.2019 von 6 % auf 1,8 % gesenkt. Nachdem bereits die Verfassungsmäßigkeit der Höhe von Säumniszuschlägen im Fokus höchstrichterlicher Rechtsprechung steht (vgl. hierzu unseren Newsletter vom 24.5.2023), hat nun auch die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Höhe von Aussetzungszinsen den BFH erreicht.
I. Nach geltender Rechtslage haben Einspruch und Klage im Anwendungsbereich der AO und der FGO grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung. Die aufschiebende Wirkung von Einspruch und Klage muss vielmehr gesondert angeordnet werden. Sie wird auf Antrag durch AdV gewährt, wenn bspw. ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen. Die AdV bewirkt, dass die Finanzbehörde vorläufig nicht mehr vollstrecken darf.
II. Soweit der Einspruch oder die Anfechtungsklage gegen eine der in § 237 Abs. 1 AO aufgezählten Verwaltungsakte endgültig keinen Erfolg gehabt hat, ist der von der Vollziehung ausgesetzte Betrag gem. § 237 Abs. 1 Satz 1 AO zu verzinsen. Auf die Festsetzung von Aussetzungszinsen sind gem. § 239 Abs. 1 Satz 1 AO die für die Steuern geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden, was insbesondere bedeutet, dass der Zinssatz grundsätzlich einhalb Prozent pro Monat beträgt (§ 238 Abs. 1 Satz 1 AO).
III. Der VIII. Senat des BFH ist in einer aktuellen Entscheidung (vom 8.5.2024 VIII R 9/23) zu der Auffassung gelangt, dass der höhere Zinssatz bei der Festsetzung von Aussetzungszinsen im Vergleich zu Zinsen nach § 233a AO seit 2019 verfassungswidrig ist. Ein Zinssatz für die Zinsen bei AdV in Höhe von einhalb Prozent pro Monat sei im maßgeblichen Zeitraum mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar.
1. In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Fall hatte das Finanzamt gegenüber dem Kläger Aussetzungszinsen für die Zeit vom 22.9.2014 bis zum 15.4.2021 mit dem gesetzlichen Zinssatz von 0,5 % pro Monat festgesetzt. Mit der dagegen erhobenen Klage machte der Kläger geltend, die AdV-Zinsen seien der Höhe nach für die Zeit seit dem 1.1.2019 verfassungswidrig und dürften nicht mehr erhoben werden.
2. Der Senat hat sich der Auffassung des Klägers angeschlossen und zur Begründung der Verfassungswidrigkeit ua. ausgeführt:
- Zumindest während einer anhaltenden strukturellen Niedrigzinsphase sei der gesetzliche Zinssatz der Höhe nach evident nicht (mehr) erforderlich, um den durch eine spätere Zahlung typischerweise erzielbaren Liquiditätsvorteil abzuschöpfen.
- Seit dem 1.1.2019 werden nach Auffassung des Senats Steuerpflichtige, die AdV-Zinsen schulden, weil sie den geschuldeten Betrag nach AdV nicht bezahlt haben, und Steuerpflichtige, die Nachzahlungszinsen entrichten müssen, weil ihre Steuerfestsetzung zu einem Unterschiedsbetrag (§ 233a Abs. 3 AO) geführt hat und sie die materiell-rechtlich von Anfang an geschuldete Steuer deshalb erst später zahlen müssen, ungleich behandelt. Die seit 2019 geltende Zinssatzspreizung sei verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.
- Die Ungleichbehandlung entfalle auch nicht deshalb, weil die Steuerpflichtigen ihr im Prinzip ausweichen könnten. Nach Auffassung des Senats können Steuerpflichtige zwar beeinflussen, ob AdV-Zinsen entstehen. Sie entschieden grundsätzlich frei, ob sie die AdV beantragen oder ob sie den geschuldeten Betrag sofort entrichten. Auch eine sog. aufgedrängte AdV müsse nicht hingenommen werden. Dabei handele es sich jedoch – ungeachtet des Umstands, dass diese Optionen vor allem aus wirtschaftlichen Gründen nicht allen Steuerpflichtigen jederzeit offenstehen würden – lediglich um Ausweichoptionen. Die vorliegende verfassungsrechtlich relevante Ungleichbehandlung werde dadurch nicht beseitigt.
Beraterhinweis
Die Entscheidung des BFH ist begrüßenswert. Allerdings bleibt die Entscheidung des BVerfG abzuwarten. Gegen Bescheide über die Festsetzung von Aussetzungszinsen für Verzinsungszeiträume ab 2019 sollte Einspruch eingelegt und das Ruhen des Verfahrens wegen des beim BVerfG anhängigen Verfahrens (§ 363 Abs. 2 Satz 2 AO) beantragt werden. Dieses Vorgehen kann auch für Stundungszinsen nach § 234 AO erwogen werden. Für diese dürften dieselben verfassungsrechtlichen Bedenken zur Zinshöhe wie hinsichtlich der Aussetzungszinsen angeführt werden können.