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Der faktische Geschäftsführer im Steuerrecht und Steuerstrafrecht

Auf die Rechtsfigur des faktischen Geschäftsführers trifft man in den verschiedensten steuerrechtlichen Auseinandersetzungen. Die zentrale Vorschrift für die steuerliche Einordnung solcher Personen befindet sich in § 35 AO. Danach hat, wer als Verfügungsberechtigter im eigenen oder fremden Namen auftritt, die Pflichten des gesetzlichen Vertreters (§ 34 Abs. 1 AO), soweit er sie rechtlich und tatsächlich erfüllen kann.

 

I. Widerspruch in § 35 AO

Die Vorschrift trägt einen Widerspruch in sich. Der Widerspruch besteht darin, dass im 1. Halbsatz auf eine bloße Behauptung der Verfügungsmacht abgestellt wird, indem als Voraussetzung ein Auftritt als Verfügungsberechtigter verlangt wird. Im Nachsatz wird jedoch als zusätzliche Voraussetzung die tatsächliche und rechtliche Möglichkeit verlangt, die steuerlichen Pflichten erfüllen zu können. Der 1. Halbsatz wird durch den Nachsatz eingeschränkt, das bloße Auftreten im eigenen oder fremden Namen reicht letztlich nicht aus.

Die Rechtsfolge aus § 35 AO ist, dass den faktischen Geschäftsführer die steuerlichen Pflichten eines gesetzlichen Vertreters treffen. Er haftet dementsprechend bei Pflichtverletzungen (§ 69 AO) und kann sich einer Steuerhinterziehung durch Unterlassen strafbar machen.

BFH und BGH haben sich in neueren Entscheidungen zur Auslegung von § 35 AO geäußert. Bemerkenswert ist, dass der BFH im Rahmen der steuerlichen Haftung die Voraussetzungen der faktischen Geschäftsführung enger auslegt als der BGH im Steuerstrafrecht.

In zwei Entscheidungen des BFH vom 20.2.2024 (VII R 16/21, BStBl. II 2024, 624) und des BGH vom 27.6.2023 (1 StR 374/22, wistra 2024, 298) wird dies deutlich.

 

II. BFH zum vorläufigen Sachwalter

In älterer Rechtsprechung löst der BFH den Widerspruch in § 35 AO u.a. dadurch auf, dass der Verfügungsberechtigte aufgrund besonderer Rechtsbeziehung die Möglichkeit haben muss, den gesetzlichen Vertreter anzuweisen oder für ihn zu handeln (beispielhaft BFH vom 16.3.1995 VII R 38/94, BStBl. II 1995, 859). Der BFH legt ein besonderes Augenmerk auf den Nachsatz in § 35 AO und die darin vorgesehene rechtliche Möglichkeit, die steuerlichen Pflichten erfüllen zu können.

Diese Auslegung durch den BFH spiegelt sich exemplarisch in dem Urteil des BFH wider. Der BFH hatte die Haftung eines vorläufigen Sachwalters als faktischen Geschäftsführer nach § 35 AO für Lohnsteuern der insolventen Gesellschaft zu beurteilen (BFH vom 20.2.2024 VII R 16/21, BStBl. II 2024, 624; Das Urteil wurde ausführlich im Zehnt–Steuerblog vom 30.7.2024 von OLBING und SOMMER besprochen).

Die Gesellschaft befand sich in einem Schutzschirmverfahren. Der Sachwalter hatte die Kassenführung gemäß § 275 Abs. 2 InsO an sich gezogen und ein Anderkonto für die Gesellschaft eingerichtet. Sämtliche eingehenden und ausgehenden Zahlungen der Gesellschaft wurden über dieses Konto abgewickelt. Lohnsteuern für die Angestellten der Gesellschaft führte der Sachwalter nicht ab. Das Finanzamt nahm den Sachwalter später für die nichtabgeführten Lohnsteuern per Haftungsbescheid in Anspruch.

Der BFH bejahte im Ergebnis eine Haftung des Sachwalters, problematisiert aber ausführlich das Vorliegen der „Verfügungsmacht“. Eine Person ist demnach nur dann Verfügungsberechtigter, wenn sie in der Lage ist, die Pflichten eines gesetzlichen Vertreters rechtlich wirksam zu erfüllen. Eine nur tatsächliche Verfügungsmöglichkeit soll nicht ausreichen. Notwendig ist die Fähigkeit, aufgrund bürgerlich-rechtlicher Verfügungsmacht im Außenverhältnis wirksam zu handeln (BFH vom 20.2.2024 VII R 16/21, BStBl. II 2024, 624, Rz. 16).

Der Sachwalter wurde hier zum faktischen Geschäftsführer, da er die Verfügungsmacht nach § 275 Abs. 2 InsO an sich gezogen hatte und durch die daraus folgende Beherrschung des Anderkontos die tatsächliche und rechtliche Möglichkeit hatte, die Pflichten eines gesetzlichen Vertreters, hier die rechtzeitige Abführung der Lohnsteuern, zu erfüllen. Dadurch, dass er alle Geldmittel der Gesellschaft auf dem Anderkonto verwahrte, wurden ihm treuhänderähnliche Befugnisse eingeräumt.

 

III. BGH zu Strohmanngeschäften

Der BGH legt die Voraussetzungen des § 35 AO für steuerstrafrechtliche Zwecke deutlich weiter aus. Dies lässt sich anhand einer jüngst ergangenen Entscheidung zu einem klassischen Strohmanngeschäft darstellen (BFH vom 27.6.2023 1 StR 374/22, wistra 2024, 298).

Der BGH hatte die Strafbarkeit des Hintermannes eines Strohmanngeschäfts wegen Steuerhinterziehung durch Unterlassen zu beurteilen. Der Hintermann wies seinen Strohmann, dem Geschäftsführer einer GmbH an, keine Umsatzsteuererklärungen für die GmbH abzugeben, und baute so ein Umsatzsteuerbetrugssystem auf. Fraglich war, ob der Hintermann, der in keinem gesellschaftsrechtlichen Verhältnis zu der GmbH stand, strafrechtlich verantwortlich war, für die GmbH eine Umsatzsteuererklärung abzugeben.

Der BGH bejahte eine Verantwortlichkeit des Hintermannes für die Abgabe der Steuererklärung als faktischer Geschäftsführer nach § 35 AO und bestätigte eine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung durch Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO).

Dabei verwies der BGH zwar ausdrücklich auf die BFH-Rspr., wonach eine rein tatsächliche Verfügungsmacht nicht ausreichen soll. Sodann stützt der 1. Strafsenat seine Entscheidung aber tragend auf den Rechtssatz, wonach eine ausreichende Verfügungsmacht für denjenigen anzunehmen sei, der aufgrund eines gemeinsamen Tatplans, mit dem die Beteiligten stillschweigend eine Weisungsmacht und -gebundenheit vereinbaren, den Vertretenen steuern und über seine Mittel verfügen könne (BGH vom 27.6.2023 1 StR 374/22, wistra 2024, 298, Rz. 7).

Diese Voraussetzungen bejahte der BGH und sah den Hintermann als faktischen Geschäftsführer nach § 35 AO und somit als für die Abgabe der Umsatzsteuererklärung der GmbH des Strohmannes verantwortlich an. Die Verantwortlichkeit ergebe sich daraus, dass der Hintermann das Verhalten des Strohmannes gegenüber den Finanzbehörden steuerte, indem er diesen anwies, keine Steuererklärungen abzugeben. Er sei auch in der Lage gewesen, der Verpflichtung zur Abgabe richtiger Umsatzsteuererklärungen nachzukommen. Denn er bestimmte den Inhalt der Rechnungen, die der Strohmann als sein Schreibgehilfe erstellte.

 

Fazit

Ein faktischer Geschäftsführer ist ein Verfügungsberechtigter iSd. § 35 AO und hat die Pflichten eines Vertreters, wenn er im eigenen oder fremden Namen auftritt und soweit er die Pflichten rechtlich und tatsächlich erfüllen kann. Der BGH geht davon aus, dass ein gemeinsamer Tatplan mit einer stillschweigend vereinbarten Weisungsmacht und -verbundenheit die rechtliche Verfügungsmacht ersetzen kann. Ob eine solche stillschweigende Vereinbarung aber rechtlich verbindliche Anweisungen an den formellen Geschäftsführer ermöglicht, erscheint zweifelhaft und wird vom BGH nicht problematisiert. Im Ergebnis lässt der BGH vielmehr die rein tatsächliche Verfügungsmacht des Hintermanns ausreichen, um die Voraussetzungen eines faktischen Geschäftsführers zu bejahen. Das ist insofern überraschend, als der BFH ausdrücklich eine rein tatsächliche Verfügungsmacht nicht als ausreichend erachtet und einen besonderen Rechtsgrund für die Verfügungsmacht verlangt. Es wäre wünschenswert, dass die Obergerichte in dieser Frage zu einer einheitlichen Linie fänden.

Dr. Martin Wulf
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht
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